WELCHE STRAFEN GIBT ES?
Das strafrechtliche Sanktionensystem in Deutschland wird als zweispurig bezeichnet. Man unterscheidet Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung. Zu Letzteren zählen die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung, die Entziehung der Fahrerlaubnis oder das Berufsverbot. Bei den Strafen werden Hauptstrafen und Nebenstrafen unterschieden. Die Geldstrafe und die Freiheitsstrafe sind die Hauptstrafen. Zu den Nebenstrafen zählt insbesondere das Fahrverbot (§ 44 StGB).
Wie findet ein(e) RichterIn
die richtige Strafe?
STRAFZUMESSUNG IN DER
PRAXIS
Kindesmissbrauchsfall Münster:
Patrick B. zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 3 Monaten verurteilt
Der Münsteraner Kindesmissbrauchskomplex hat in den Medien viel Aufmerksamkeit erhalten. Mehrere Beschuldigte sollen über Jahre hinweg Kinder sexuell missbraucht haben. Dem Haupttäter wird vorgeworfen, das Kind seiner Lebensgefährtin über das Internet für Missbrauchstaten angeboten und in vielen Fällen auch selbst missbraucht zu haben. Außerdem wurden Videos und Fotos der Taten über das Darknet verbreitet. Es wird gegen mehr als 40 Tatverdächtige ermittelt.
Ende 2020 wurde ein erstes Urteil gegen einen der Missbrauchstäter gesprochen: Das Gericht hat festgestellt, dass der 53-jährige Angeklagte den damals 9-jährigen Ziehsohn des Hauptangeklagten vergewaltigt hatte. Er wurde daher wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176a StGB) verurteilt.
Der schwere sexuelle Missbrauch von Kindern kann mit 2 Jahren bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe bestraft werden. Das Gericht hat gegen den Missbrauchstäter im vorliegenden Fall eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 3 Monaten verhängt. In den Medien wurde dieses Urteil teilweise als zu milde und als „Skandal-Urteil“ bezeichnet.
Warum wurde der Missbrauchstäter zu einer Strafe verurteilt, die am unteren Ende des Strafrahmens liegt?
Man könnte zunächst auf die Idee kommen, dass der Täter möglicherweise psychisch krank und deswegen nicht voll schuldfähig war und aus diesem Grund eine milde Strafe verhängt wurde. Das ist aber nicht der Fall, das Gericht hat die volle Schuldfähigkeit des Täters festgestellt.
Der schwere sexuelle Missbrauch von Kindern kann mit einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren bis zu 15 Jahren geahndet werden.
Allerdings wird nicht immer der im Gesetz vorgesehene Regelstrafrahmen angewendet: Es gibt bestimmte gesetzlich festgelegte Gründe, die zu einer Verschiebung des Strafrahmens führen können. Das heißt, dass anstelle des Regelstrafrahmens, der in der Strafvorschrift festgelegt ist (z.B. beim schweren sexuellen Missbrauch von Kindern Freiheitsstrafe von 2 bis zu 15 Jahren), ein niedrigerer Strafrahmen angewendet wird.
Im Fall des Münsteraner Missbrauchstäters hat das Gericht gleich zwei Mal eine solche Strafrahmenverschiebung nach unten vorgenommen, es liegt also eine sogenannte „doppelte Strafrahmenmilderung“ vor.
Der erste Milderungsgrund war hier das Vorliegen eines sogenannten Täter-Opfer-Ausgleichs. Nach § 46a StGB kann ein Gericht den Strafrahmen nach unten verschieben, wenn der Täter in dem Bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen, seine Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wiedergutmacht oder deren Wiedergutmachung ernsthaft erstrebt. Dasselbe gilt, wenn der Täter in einem Fall, in dem die Schadenswiedergutmachung von ihm erhebliche persönliche Leistungen oder persönlichen Verzicht erfordert hat, das Opfer ganz oder zum überwiegenden Teil entschädigt. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift hat das Gericht im vorliegenden Fall bejaht. Medienberichten zufolge hat der Verurteilte Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 € an das Opfer bezahlt und möchte auch zukünftige Kosten übernehmen.
Hintergrund der Regelung ist, dass eine Anerkennung des Unrechts der Tat durch den Täter für das Opfer häufig psychisch entlastend wirkt; auch ein materieller Ausgleich kommt dem Opfer zugute. Außerdem soll sich der Täter im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs besonders mit seiner Tat auseinandersetzen und Verantwortung für sie übernehmen.
In manchen Medienberichten wurde kritisiert, dass der Täter sich durch die Zahlung des Schmerzensgeldes „freikaufen“ wolle. Dieser Vorwurf ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Allerdings genügt für den Täter-Opfer-Ausgleich nicht das bloße Überweisen eines Geldbetrages; die Zahlung muss Ausdruck eines ernsthaften Bemühens um Wiedergutmachung sein.
Ein Gericht kann nach § 46b StGB auch dann den Strafrahmen mildern, wenn der Täter durch freiwilliges Offenbaren seines Wissens wesentlich dazu beigetragen hat, dass eine mit seiner eigenen Tat zusammenhängende weitere Straftat aufgedeckt werden konnte, oder wenn der Täter freiwillig sein Wissen so rechtzeitig einer Dienststelle offenbart, dass eine solche Tat noch verhindert werden kann. Auch das Vorliegen der Voraussetzungen dieser Vorschrift hat das Gericht im vorliegenden Fall bejaht. Der Angeklagte hatte im Münsteraner Fall die Tat gegenüber den Ermittlern gestanden und Hinweise zu weiteren Beschuldigten gegeben.
Aus diesem Grund hat das Gericht den Regelstrafrahmen des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern doppelt gemildert. Der Regelstrafrahmen wurde von 2 Jahren bis zu 15 Jahren zunächst auf 6 Monate bis 11 Jahre und 3 Monate Freiheitsstrafe abgesenkt. Aufgrund der zweiten Milderung wurde der Strafrahmen nochmals abgesenkt auf 1 Monat bis zu 8 Jahren und 5 Monaten Freiheitsstrafe.
Aus der Medienberichterstattung zu diesem Fall ergibt sich, dass der Verurteilte nicht vorbestraft war. Außerdem hat er seine Tat gestanden und Reue gezeigt. Solche Umstände werden im Strafverfahren von den RichterInnen typischerweise strafmildernd berücksichtigt. Diese Umstände dürfte das Gericht auch im konkreten Fall bei der Auswahl der Strafe aus dem verbleibenden niedrigeren Strafrahmen berücksichtigt haben.
Trotz alledem hat auch die Vorsitzende Richterin nach Medienberichten am Ende selbst erklärt, dass es sich um eine verhältnismäßig milde Strafe für ein schweres Verbrechen handle. Auch unter Berücksichtigung aller oben erwähnten Umstände ist das Urteil nicht mehr schuldangemessen. Die Vergewaltigung eines Kindes ist ein Verbrechen, das erhebliche Empathielosigkeit zeigt, sich gegen ein besonders hilfloses Opfer richtet und bei dem Kind schwerste psychische Schäden anrichtet. Dass die Strafrahmen nun durch das neue Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder angehoben werden, ist wohl auch eine Reaktion auf Urteile, die das Opfer der Tat derart aus dem Blick verlieren.
DAS JUGENDSTRAFRECHT
Wann kommt das Jugendstrafrecht zur Anwendung?
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WARUM HABEN WIR KEINE TODESSTRAFE?
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DIE VORZEITIGE HAFTENTLASSUNG
Anfang 2017 wurde die Rapperin Schwesta Ewa (bürgerlich Ewa Malanda) wegen mehrfacher Körperverletzung und Steuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt. Nachdem das Urteil vom Bundesgerichtshof bestätigt worden war, trat sie im Januar 2020 ihre Haftstrafe an. Im Februar 2021 feierte E. auf Instagram gemeinsam mit ihrer Tochter ihre Freilassung, Bildunterschrift: „Wir sind Freiiiii“, im Hintergrund formen goldene Luftballons das Wort „Free“. Dies mag auf den ersten Blick verwundern, denn rechnerisch hätte E. ihre Strafe erst im Sommer 2022 verbüßt.
Grundlage für die vorzeitige Entlassung der Rapperin ist ein sog. "Zweidrittelbeschluss", geregelt in § 57 Abs. 1 StGB. Danach setzt das Gericht die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe unter bestimmten Voraussetzungen zur Bewährung aus. Das bedeutet, dass die verurteilte Person das Gefängnis verlassen kann. Völlig frei ist sie damit jedoch nicht.